Kostproben Humus

Kirche6

Ein Ganz normaler Sonntag….

 

Wie jeden Sonntag trat Monsignore Rangl vor die Haupt­pfarrkirche, richtete sein Haupt empor, um dem Herrn ein flüchtiges Danke entgegenzubringen, und begab sich zum Weltkriegsdenkmal, um der gefallenen Soldaten zu gedenken – zumindest musste es für Außenstehende so wirken. Für ihn galt der Ritus weniger dem Gedenken, denn einem weiteren Akt im ewigen Drama – „Priester gegen Volk“.

Wie zum Beweis hatte ihm das Schicksal die kleine Lena vorbeigeschickt, das wahrscheinlich bravste und nervigste Kind Stradens, eine Besserwisserin der Sorte Mutter Teresa, die keinen Moment ungenutzt ließ, um ihn mit Fragen zu quälen, die selbst den Dalai Lama an den Rand des Wahnsinns gebracht hätten. Diesmal hatte sie von ihm wissen wollen, ob Gott Menschen, die regel­mäßig in die Kirche gingen, mehr Glück schenken würde als anderen? Er hatte die kleine Göre kurz und verächt­lich angesehen und geantwortet: „Ich bin jeden Tag in der Kirche, findest du, dass ich dabei glücklich aussehe?“

Eigentlich eine klare Ansage, bei der jedes andere Kind davongerannt wäre, nicht aber Lena. Die hatte ihn mitleidig angesehen, seine Hand genommen und entgeg­net, dass das wohl daran liege, dass er keinen Sex haben dürfe!

Seit wann bitte sagten neunjährige Kinder so etwas? Die Welt war ein riesiges Fäkalienmeer und er war ein Schiffbrüchiger ohne Rettungsring. Merda! Genau so fühlte sich der Morgen, nein sein ganzes Leben an.

Durch den Torbogen, der Hauptpfarrkirche und Resi­denz verband, ging er auf den Pfarrplatz. Es war einer dieser kühlen Novembertage, ein undurchdringbarer Wolkenvorhang hüllte die Region in tristes Grau, Nacht und Tag unterschieden sich nur durch marginale Grauschattierungen, es schien, als wäre die Sonne auf Ur­laub. Einzig das Rosenbeet, es war Heimat dreier Rosen­stöcke, vermochte seine Stimmung ein wenig aufzuhellen. Monsignore Rangl liebte Rosen, auch wenn sie gerade nicht in Blüte standen, auch an kühlen Novembertagen und sogar an Sonntagen, an denen er lieber in seinem französischen Doppelbett geblieben wäre, um wie jeder normale Christ seinen Kater auszuschlafen. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte Messe und Beichte abgesagt. Und er hätte dem Gärtner aufgetragen, weitere Rosenstöcke zu setzen. Ersteres scheiterte am kanonischen Recht, Zweiteres an der Wirtschaftskrise. Er blickte die zwei­hundert Jahre alte Atlas-Zeder an und das ungute Gefühl, dass er vielleicht ebenso lange an diesem gottverlassenen Ort bleiben müsste, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Ob Petrus, der kleine Pfortenbote, ihm diese An­spielung wohl durchgehen lassen würde? Was weiß schon ein Priester! Für Petrus, Rom und alles Weitere würde noch genug Zeit bleiben, zuerst musste er einen Teufel namens Kopfweh austreiben. Am besten mit ei­nem Schuss Cognac.

Die Erkenntnis…

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Als sie an diesem Abend die Gärtnerei verließ, wusste sie nicht so recht, was sie zuerst machen sollte. Lachen? Heulen? Schreien? Lachen über die Naivität, einem Mann zu vertrauen, der sie in fünfzehn Ehejahren mit drei un­terschiedlichen Frauen betrogen hatte!? Heulen, weil so­gar das nur eine vage Schätzung war und sie ihn trotz al­ledem nicht nicht lieben konnte? Oder sollte sie vor Wut brüllen, weil sie die einzige Person in dieser Ruine na­mens Ehe war, die noch den Willen hatte, an deren Fort­bestand zu arbeiten? Wozu das Ganze? Zu welchem Zweck? Damit er weiterhin Geld aus dem Unternehmen, das sie erst erfolgreich gemacht hatte, ziehen konnte? Dachte er wirklich, dass sie keine anderweitigen Möglich­keiten gehabt hätte?

Nein, das Lachen war ihr vergangen. Verzweiflung machte sich breit – und Wut. Mit einem kräftigen Druck auf das Bremspedal und unter tatkräftiger Mithilfe der elektronischen Assistenzsysteme brachte sie den SUV zum Stehen. Sie sprang aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu.

Scheiß Protzkarre!“, fauchte sie den wie immer nicht antwortenden Mercedes an.

Niemals hätte ich dich Kübel gekauft … aber ich wollte es ihm ja unbedingt recht machen … ihm eine Freude be­reiten … ihm meine Liebe zeigen!!!“

Während Frau Recknal ihren Seelenschmerz in den nebelverdeckten Nachthimmel brüllte, schlug sie mit dem faustgroßen Stein, den ein wohl gnädiger Racheengel hat­te fallen lassen, wie besessen auf die Autotüre ein. Erst als die Türe eine fast durchgehend konkave Wölbung aufwies, ließ sie von ihr ab. Der Adrenalinschub hatte nachgelassen, der rechte Arm wurde schwer, der „Tat­stein“ glitt aus ihrer Hand, fiel auf den kalten Boden. Sie war am Boden. Während ihr dicke Tränen über die Wangen liefen, griff sie durch die zerborstene Fensterscheibe hindurch zur Mittelkonsole. Dort lagen ein Päckchen Memphis und eine Pistole – sie beschloss, beides mitzunehmen. In Trance stapfte sie über den gefrorenen Ackerboden, immer der Feldmitte zu. Auf einmal, wie aus dem Nichts, war er da – der perfekte Platz. Sie ließ sich nieder, entkräftet, von inneren Schmerzen geplagt.

Auf dem Rücken liegend trotzte sie dem kalten Unter­grund, versuchte vergebens, sich der inneren Leere zu stellen. Sie streckte ihre kraftlosen Beine von sich und entzündete eine Zigarette, die Pistole griffbereit zu ihrer Rechten liegend. Dabei starrte sie in den Himmel, durch den dicken Nebelvorhang war nur ein einzelner Stern zu erkennen, und doch war es der klarste Augenblick ihres Lebens. Als würde Gott persönlich zu ihr sprechen, ihr die Worte in den Mund gelegt haben. Sie musste keine Arche bauen, um die Artenvielfalt zu erhalten, ihre Auf­gabe lag im Schutz der Familie.

Wer nach den Sternen greift, schiebt Nebel beiseite. Glück widerfährt jenen, die Widerstände beseitigen“ – die göttliche Botschaft ergab Sinn.

Das Bild formte sich zu einem Gesicht. Verboten schön waren ihre Augen, waren ihre Haare. Entfernt hör­te sie eine Stimme, sie lächelte. Gleich würde es kein Ge­sicht, keine blauen Augen, keine Stimme und kein Un­glück mehr geben. Langsam hob sie die Waffe, richtete die Mündung gegen das Bildnis, gegen den Laut, den der Himmelsvorhang nun freigab. Der Zeigefinger krümmte sich um den Abzug – ein kleiner Klick für sie, ein großer für die Ehe – es wurde dunkel.

 

 

Im Silo…

Ein Albtraum! Ich war gefallen, eine gefühlte Ewigkeit, und lag auf dem BSilooden. Alles tat weh. Die Luft war im­mer stickiger geworden, das Atmen immer schwerer. Ir­gendwann hatte mich wohl die Kraft verlassen, zumindest hatte ich aufgehört, an die Wände des Silos zu trommeln. Kam ja doch keiner. „Der letzte Hilfeschrei markiert das Ende der Verzweiflung“ – hatte ich mal gelesen. Mag sein. Trifft aber wohl eher auf Personen zu, die nicht ge­rade in einem riesigen Kompostiertank gefangen sind. Ich für meinen Teil war nur müde geworden, die Verzweif­lung war nicht gewichen, sie war Mitgefangene.

Es lag an der Luft, so sehr ich sie auch versuchte ein­zusaugen, meine Lungen bekamen zu wenig Sauerstoff. Alles wurde schwer, ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, musste mich hinlegen, wie bei einer ver­dammten Narkose, nur dass am Ende niemand zu einem sagt: Alles ist gut. Danach war ich eingeschlafen und erst vor wenigen Minuten wieder aufgewacht.

Öffne endlich deine Augen, sagte ich mir. Sie waren längst offen. Es war nur kein Licht vorhanden, es war dunkel, alles schwarz. Aus der Ferne hörte ich etwas Me­chanisches, ein Surren, das lauter wurde. Immer noch hatte ich dieses Schwindelgefühl, wie Schlaftrunkenheit mit einem Promille Restalkohol. Gebannt starrte ich in Richtung des Geräusches, sogar wer nur hört, will das Unsichtbare sehen. Irgendetwas passierte an der Silode­cke. In diesem Augenblick begann sich das Dach, es be­stand wohl aus zwei separat steuerbaren Abdeckklappen, von denen eine geschlossen blieb, zu öffnen. Es gab den Blick auf den Himmel frei. Auch wenn es in Strömen ge­regnet hätte, es wäre trotzdem der schönste Morgenhim­mel meines Lebens gewesen. Die Luft wurde innerhalb weniger Minuten besser, mit jedem Atemzug kam etwas verlorenen Kraft zurück – etwas Hoffnung.

Nun konnte ich das erste Mal mein Gefängnis sehen. Der Tank war in mehrere Ebenen gegliedert, jede einzel­ne war durch einen feinmaschigen Gitterboden von der nachfolgenden getrennt. Unter mir befanden sich mindes­tens zwei weitere Kammern, die, soweit ersichtlich, mit diversem Kompostmüll befüllt waren. Geschlafen hatte ich offensichtlich auf einem Stein-Erde-Sand-Gemisch, mit dem der Boden meines Levels aufgefüllt war. Die Sonne ging langsam auf und eröffnete weitere Details meiner Zelle. Zirka zwei Meter ober mir befand sich die Schleusentür, über die ich mein Verlies betreten hatte. Ich war also wirklich gestürzt – ein Wunder, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Und noch ein Wunder! An einer der zu Wartungszwecken in der Wand verankerten Sprossen baumelte meine Handtasche. Verdammte Schei­ße, ich ließ einen Freudenschrei los, mein Handy war nur zwei Meter von mir entfernt. Meine Kräfte waren zurück­gekehrt, Hunger und Durst wie weggeblasen. Hastig be­gann ich zu klettern, als das Surren wieder einsetzte. Das Dach begann sich zu schließen, die Dunkelheit kehrte zu­rück.